Die Macht der Subjektivität. Die Natur ist grausam.

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  • Die Macht der Subjektivität. Die Natur ist grausam.

Wenn ich heute Dokumentationen über das Tierreich sehe, erinnert es mich oft an meine Kindheit, denn damals liefen vergleichbare Dokumentationen.
Wilde Tiere in Afrika, die Serengeti beispielsweise. Gefühlt lag und liegt der Schwerpunkt der Darstellungen einerseits darauf, was Beutegreifer, wie etwa Löwen, Hyänen oder Geparde, den ganzen Tag tun.
Eher selten wurde von der Beute berichtet. Und wenn, dann eher, dass deren Existenz-Verständnis oder Dasein darin besteht, als Futterquelle für die Beutegreifer zu dienen.
Ihre Rolle war die des willigen Bilderbuch-Opfers. Kaum wurde ihnen eine sonderlich andere Bedeutung und Rolle zugestanden. Und wenn, dann offenbar nur, dass sie versonnen in der Sonne fraßen, sich vermehrten und eben, fast schon programmatisch, scheinbar darauf warteten, von einem Löwen, Geparden & Co. gerissen und aufgefressen zu werden.
Fast schon, als bestünde ihre Existenz einzig darin, nur eben zahlreich genug ausreichend Nachkommen zu zeugen, damit diese wiederum von den Jägern gerissen werden konnten, usw. usf.
Die ewige Leier und Geschichte des Fressens und gefressen werdens.
Andererseits wurde schwerpunktartig dargestellt, dass Löwen, Geparde & Co. ihre Zeit fast ausschließlich damit verbringen, sich zu vermehren und vor allem Beute zu jagen, zu erlegen und zu fressen. Das war gefühlt der Kreislauf und der Schwerpunkt der Berichterstattung.

Sehr schwer zu ertragen waren die Bilder, in denen nun diese Opfer gerissen und mitunter bei lebendigem Leibe gefressen wurden. Als Kind war es mir absolut unverständlich und unerträglich.
Es war emotional empfundenes Mitgefühl und Empathie für diese leidenden Geschöpfe, die doch, so der gefühlte Tenor diese Dokus, nichts anderes darstellten, als bereitwillige und, im ontologischen Sinne, der Qual anheimfallende Geschöpfe mit der naturgegebenen Wertigkeit einer Nulllinie.
Und so lagen sie dort, schwer verletzt und doch noch lebend, schnaufend und stöhnend ob des Schmerzes und der Pein, während sich ihre Peiniger an ihnen labten. Dieser Blick der Unvorstellbarkeit, dass ihr Leben nun einfach aufgefressen wird.
Es war für mich als Kind unfassbar und unerträglich. Es machte mich wütend, aufgrund der Unerträglichkeit dieser grausam wirkenden Bilder, aufgrund meines Mitgefühls sowie aufgrund meiner Hilflosigkeit.
Was hätte ich dafür gegeben, diesen Tieren zu helfen, anstatt bloß als lüsterner Stalker durch die Linse der Kamera zuzusehen, wie mal eben auf die denkbar grausamste Weise ihr Leben ausgehaucht und qualvoll aufgefressen wird?
Wie sehr wünschte ich mir, diesen leidenden und vor Schmerz aufschreienden Wesen zu helfen.
Und so fragte ich mich, wieso der Kameramann, der diese Bilder aufzeichnete, diesen leidenden und vor Qual und Pein schreienden Geschöpfen, nicht geholfen hat, anstatt einfach nur die Kamera drauf zu halten?
Ich wünschte mir so sehr, dass ich jetzt, in diesem Moment, anstatt des Kameramannes, dort sein könnte und diese fiesen, gemeinen, brutalen und widerwärtigen Löwen, Geparden und Co. mit einem Jagdgewehr ordentlich eine fette Kugel zu verpassen!
Sie sollten eine Strafe erhalten für diese Ungeheuerlichkeit, diese wunderschönen und friedlichen Gazellen, Gnus usw. bei lebendigem Leibe zu fressen. Das wäre die gerechte Strafe für diese Ungeheuerlichkeit und über alle Maße bestehende Grausamkeit. Zumindest aber wollte ich sie vertreiben, damit wieder Friede, Harmonie und Gerechtigkeit herrsche. Sowieso sollten alle Geschöpfe auf Erden sich verstehen und in Harmonie und Eintracht existieren (dürfen).
Das war mein kindliches Verständnis von der Welt und ihren Vorgängen sowie mein extrem starkes Gefühl und Hingabe des Friedens und Eintracht auf Erden.

Es ist eindeutig und klar. Diese Bilder und Szenen prägten mein Verständnis von der Natur, von dieser Welt. Ich möchte behaupten, das Verständnis fast aller Menschen.
Die Natur als grausamer Vollstrecker, die kein Mitleid, kein Mitgefühl und kein Erbarmen kennt. Der Leid, Schmerz und Qual völlig egal ist.
Und das, obwohl ja erst Schmerz, und somit Leid und Qual, durch die Natur selbst entstanden sind! Denn aus ihr sind im evolutionärem Prozess die Leiber und somit das Schmerzempfinden entstanden. Die Natur also somit als personifizierte Ungerechtigkeit, Peiniger und Schlächer ihrer selbst.
Keine Moral, keine Ethik, nur Schmerz, Qual, Leid, Blut, Fleisch, Fressen und zur Verfügung gestellte Opfer für die Speisetafel der Starken.
Die Täter, in diesen Dokus eben die Beutegreifer, hatten alle Legitimationen und Rechtfertigungen, die man sich denken kann. Denn in der Natur geht es einzig ums Überleben, so zumindest die Botschaft.
In diesem Sinne also um das Überleben der Beutegreifer. Die anderen waren eben in ihrem Existenzverständnis nur die Opfer.
Da hilft auch kein Mitgefühl. Was weg muss, muss weg, und wenn eben nur, damit andere leben können. Und fertig.
Man kann sich angesichts dieser Bilder und hintergründig transportierten Botschaften vorstellen, dass dies in der Kinderseele prominente Eindrücke hinterlässt. Nämlich in dem Sinne, dass diese Welt als ein einziger Pool an Grausamkeit, Ungerechtigkeit, Schmerz und Pein und Vernichtung der noch so herzallerliebsten Geschöpfe und Dinge angesehen werden kann.
Fast könnte man denken und dankbar dafür sein, dass man überhaupt hier existieren darf. Weil eben die Beutegreifer einen leben lassen und nicht etwa, wenn es genauso schlecht wie in diesen Dokus läuft, bei lebendigem Leibe in Stücke reißen und auffressen.
Da der Mensch mittlerweile nahezu sämtliche gefährlicheren Beutegreifer ausgerottet hat, zumindest überall dort, wo größere Ansiedlungen seiner Zivilisation entstanden sind, bliebe dann demnach, als logischer Rückschluss, nur noch der Beutegreifer Mensch selbst, der den Vertretern seiner eigenen Spezies zu Leibe rücken könnte, kann und gegebenenfalls wird.
Die Angst vor den Vertretern der eigenen Spezies. Und diese ist nicht etwa illusionär oder unberechtigt.

Viele Jahrzehnte später dachte ich darüber nach. Ich konzentrierte mich auf die im Nachhinein beobachtete Empathie und das Mitgefühl, welches ich in derart starkem Maße als Kind empfand und immer noch empfinde.
Ich frage mich, wie das überhaupt sein kann? Ist es nicht so, dass auch ich, oder zumindest mein Körper, aus dieser Welt selbst heraus entstanden ist? Und, wenn diese Welt derart ungerecht und vor allem grausam, gnadenlos und brutal ist, wie es diese Bilder darstellten. Wie kann ich dann derart empathisch und mitfühlend empfinden?
Wie kann also Mitgefühl, Empathie oder sogar Liebe für diese Welt und deren Geschöpfe entstehen oder entstanden sein, wenn doch ich selbst aus einer scheinbar, da derart dargestellt, grauenvollen, brutalen und gnadenlosen Welt ursprünglich entstanden bin?
Wie kann das sein?
Wäre es nicht folgerichtig logischer, dass ich diese Empfindungen erst gar nicht besitzen würde, da ich selbst dieser grauenvollen, gnadenlosen und brutalen Welt ursächlich und ursprünglich entstamme, wo es so etwas scheinbar gar nicht gibt?
Wie kommt das Vorhandensein dieser Empfindungen also gewissermaßen ausdrücklich substantiell ‚in mich hinein‘?
Hat sich die Natur hier etwas völlig Neues ‚einfallen lassen‘? Wie ist das also generell möglich und zu erklären?
Das ist doch verblüffend und im Grunde zunächst eigentlich völlig unverständlich.
Wie kann man dieser Fragestellung, dem gedanklichen Zwiespalt und Konflikt, also einer verständlichen Erklärung, näher kommen?

Beginnen wir mit dem Einfachen und das sind die Medien, die Berichte und Dokus. Und letztlich wir Menschen, die wir diese Filme erzeugen.
Bei einer Tier-Doku dieser Art wird nicht das gesamte Leben, oder auch nur der Alltag, eines Löwen abgebildet und dargestellt. Vielmehr handelt es sich um ein Konzentrat, um eine komprimierte Fassung dessen, was Löwen tun. Denn eine solche Doku hat lediglich eine Dauer von 30 Minuten bis 1,5 Stunden. Ganze Spielfilme sind womöglich noch etwas länger. Das Leben eines Löwen dauert dagegen viele Jahre an. Es liegt daher nahe, dass in einem solchen Filmbeitrag eben nicht einfach die gesamte Lebensdauer in chronologischer realistischer Weise, Dauer und Abfolge dargestellt wird und werden kann. Würde man dies versuchen, so würde ein solcher Film eben viele Jahre laufen. Eben so lange, wie das Leben eines oder des Löwen dauern würde.
Deshalb wird der Alltag eines Löwen aus Aufzeichnungen, die über eine sehr viel längere Zeit aufgenommen wurden, zusammen geschnitten.
Schaut man nun mehrere unterschiedliche solcher Dokus, bekommt man den Eindruck, dass Löwen gefühlt eben beinahe ausschließlich damit beschäftigt sind, Beute zu jagen, zu fangen und zu fressen. Dies kommt daher, weil eben in beinahe jeder dieser Dokus ein Teil das Jagen, Fangen und Fressen von Beute behandelt. Warum? Weil das Jagen, Fangen und Fressen von Beute spektakulär ist. Und genau darum geht es den Filmemachern. Denn, wen würde schon eine Doku über Geparden fesseln, die zu 95% das Dösen im Schatten oder das Lecken der rechten Pfote behandelt?
Sicherlich haben diese Tiere auch etwas anderes als jagen, fangen und fressen zu tun. Doch, das würde kaum jemanden interessieren. Menschliche Filmemacher haben es eben darauf abgesehen, das Spektakuläre zu zeigen, denn sonst würden die Zuschauer auf dem Sofa schnell einschlafen. Sicherlich gehen diese Beutegreifer nur jagen, wenn es sein muss und nicht etwa, wenn sie Spaß oder Freude darauf empfinden, wie man den Eindruck angesichts dieser Bilder gewinnen könnte. Und dies ist bereits ein Unterschied zu uns Menschen. Irgendwann kommt das Gefühl Hunger und die Tiere machen sich auf den Weg. In all der anderen Zeit werden sie sich wohl im Schatten oder irgendwo anders gut gehen lassen, vielleicht dösen, das Fell pflegen oder sogar spielen. Oder sich sogar am Leben erfreuen. Doch all das ist für uns Menschen natürlich stink langweilig.
Durch die derartige konstruierte Konzentration auf das Jagen, Fangen und Fressen bekommt man als Zuschauer eben den Eindruck, dass diese Tiere den ganzen Tag fast nichts anderes tun.
Scheinbar ist das nicht jedem Zuschauer klar. Zumindest war es das nicht für mich, als ich Kind war, denn sonst hätte ich diesen Eindruck nicht erhalten.
Ein Eindruck, der, wie ich oben erwähnt habe, in mir dieses starke Bild von der Brutalität der Natur hinterlassen hat.
Im Grunde wäre es also mehr als richtig und besser, wenn jeder Filmemacher unmissverständlich klar macht und hervor hebt, dass es sich bei den Darstellungen um eben das Spektakuläre im Leben eines Beutegreifers handelt und diese Tiere jagen, fangen und fressen tatsächlich aber nur zu einem sehr geringen Prozentsatz im Vergleich zu den anderen Tätigkeiten tun.
Es mag trivial klingen, aber auf diese Weise würde in sehr sehr vielen Menschen nicht der unmittelbar überzeugende Eindruck entstehen, dass diese Tiere eben nur den ganzen Tag Beute jagen, fangen und zerfleischen. Eben beinahe so, als sei es eine Lust oder Spaß, dass diese Tiere das tun. Denn sonst würden sie es ja nicht ’ständig‘ tun. Tatsächlich tun sie es eben nur während einer sehr geringen Zeitspanne ihres Lebens.
Als Quintessenz dessen kann man also festhalten, dass diese Darstellungen und Filme mein Bild von der Natur als grausamen, gewissenlosen, unmoralischen und brutalen Vollstrecker markiert und sogar in mir gesetzt haben. Ich gehe davon aus, dass ich mit an absoluter Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht der einzige bin. Ich persönlich gehe sogar davon aus, dass es das Bild fast aller Menschen, vorallem bei denen, die nicht in direkter Konfrontation mit der Natur stehen, geprägt und für nahezu immer im Kopf eingebrannt hat.
Kommen wir nun zu dem, was ich empfunden habe und mitunter auch heute noch empfinde.
Es ist das Gefühl der Brutalität, Grausamkeit und Ungerechtigkeit. Und auch das Gefühl der Hilflosigkeit, dass man nichts dagegen unternehmen kann, was wiederum Zorn, Wut und gar Rachegelüste erzeugen kann.
Wie kann es überhaupt sein, dass ich diese Empfindungen besitze?
Um diese Frage zu beantworten, müsste ich mich einer epischen Abhandlung widmen, in der ich sämtliche Aspekte beleuchte. Deshalb vertage ich dies auf einen gesonderten Artikel.
Ich möchte nun mein Augenmerk auf den Aspekt der Bewertung legen.
Ich bewertete es als brutal, grausam, ungerecht und in gewisser Weise unerträglich und unverständlich.
Wie kann das sein? Wie komme ich darauf?
Wäre es nicht möglich oder zumindest denkbar, dass ich es cool, faszinierend, genial, anziehend und positiv empfinde?
Was ist das, was es überhaupt bewertet?
Meine Überzeugung ist, dass es meine Subjektivität, meine Persona ist, das diese Bewertung vornimmt.
Nehmen wir diese Geschehnisse einfach mal so hin wie sie sind und versuchen, es nicht zu bewerten.
Es ist, wie es ist. Wesen werden werden gefressen. Bei lebendigem Leibe. Blut spritzt herum, Därme quillen, zerreissen, platzen, eine Sauerei. Und niemanden würde es interessieren. Es wäre normal.
Den Unterschied, den ich mache, indem ich es bewerte, das bin ich.
Gut möglich, dass es nicht brutal und grausam ist, sondern es ist nur meine Auffassung dessen.
Gut, möglich, dass es egal ist. Es ist nur meine Sicht der Dinge.
Es scheint, als sei es der Natur völlig gleichgültig, was meine Sicht der Dinge ist, meine Bewertung.
Und doch würde es etwas ändern, nämlich spätestens dann, wenn ich aufgrund meiner Bewertung, meiner Sicht der Dinge und meiner Auffassung und meiner Überzeugung eingreifen würde und somit den Lauf der Dinge ändern würde.
Im Grunde könnte mich nichts und niemand davon aufhalten, lediglich die Verfügbarkeit von entsprechenden Mitteln oder Werkzeugen.
Ich bin also in der Lage, den Lauf der Dinge zu ändern, so dass es sich nicht mehr so verhalten würde, als wenn es mich nicht gäbe.
Auf diese Weise ist es also durchaus nicht nur denkbar, sondern sogar praktisch umsetzbar, aus dieser Welt einen Garten Eden entstehen zu lassen. Ein mögliches Extrema. Doch ich möchte damit nur sagen, dass wir die Gestalter dieser Welt sind.

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